Soziale Arbeit macht Politik. Aber macht sie das wirklich? Wie sich an der Bodenseetagung der Fachhochschule St.Gallen herausstellte: Es braucht Mut, Geduld und Engagement, dann kann die Soziale Arbeit viel bewegen. Auch in der Politik.
In der Schweiz leben 250’000 Menschen von der Sozialhilfe. Menschen mit einer Behinderung fühlen sich vielerorts weder akzeptiert noch integriert und bei der KESB türmen sich die schicksalhaften Fälle. Die Soziale Arbeit steht vor grossen Herausforderungen und gerät immer wieder unter medialen und politischen Beschuss. So wundert es kaum, dass sich am 17. November über 230 Sozialarbeitende, Studierende der Sozialen Arbeit, Politikerinnen und Politiker sowie Betroffene zur Bodenseetagung der Fachhochschule St.Gallen (FHS) trafen. Denn die Einladung lautete: «Soziale Arbeit macht Politik».
Engagierte Fachleute sind gefragt
«Wir stecken in einem Spannungsverhältnis», sagt Sebastian Wörwag, Rektor der FHS St.Gallen. «Aber die Soziale Arbeit sollte sich zumindest in den politischen Diskurs einmischen.» Genauso sehen es einige der Sozialarbeitenden, die sich am Vormittag in Denkinseln gruppierten und rege diskutierten. «Uns fehlen Leute, die sich engagieren, gerade aus Fachbereichen», sagt ein Vorstandsmitglied von AvenirSocial. Am Tisch nebenan erinnert man sich: «Früher haben wir uns die Wollsocken übergezogen und zünftig demonstriert.» Zwar lachen die anderen, fügen aber ernsthaft hinzu: «Wir müssen uns wieder stärker positionieren.» Dass die Soziale Arbeit keiner leichten Arbeit nachgeht, liegt auf der Hand. Deutlich macht es unter anderem der Film von Luca Ribler und Fabian Kaiser, mit Hauptdarsteller Renato Kaiser: «Redemer drüber: Sozialhilfebezüger können nicht River-Raften». Auf pointierte Art und Weise zeigen sie auf, dass es Menschen gibt, die unverschuldet in die Sozialhilfe rutschen und dass sich in der Gesellschaft ein verzerrtes Bild manifestiert hat. Auch dieses Bild gilt es aufzulösen, finden die Sozialarbeitenden.
Mutig aufs Polit-Parkett treten
Mut macht ihnen Bruno Keel. Als Leiter der Arbeitsgruppe «Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta» von AvenirSocial weiss er, wie schwierig es ist, sich auf politischer Ebene Gehör zu verschaffen. Seit vielen Jahren versucht er vehement, ein Ja dafür zu kriegen, dass die Schweiz die Europäische Sozialcharta (ESC) ratifiziert. Die neu gefasste Charta gewährt zusätzliche Garantien, wie etwa ein Recht auf Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, ein Recht auf Wohnung oder ein Recht auf Schutz vor Armut. Über 30 Staaten haben sie bereits in Kraft gesetzt, nicht aber die Schweiz. Immer wieder wird er von den Bürgerlichen gestoppt, doch Keel versucht unaufhörlich neue Wege. Mal mit einer Kampagne, mal klopft er an die Türe eines Parlamentariers, türmt Harasse auf dem Bundesplatz auf und veranstaltet eine Kundgebung, verkleidet sich als Kellner und präsentiert den Politikern die Argumente auf dem Silbertablett. Im Dezember gilt es wieder die Daumen zu drücken, dann entscheidet das Parlament. Grosse Hoffnungen macht sich Keel nicht. Aber seine Überzeugung macht Mut, für Dinge einzustehen, die es einem wert sind. Und genau das rät er den Zuhörenden im Saal: «Schauen Sie hin statt weg. Setzen Sie sich ein und haben Sie vor allem Geduld. Dann können Sie viel bewegen.»
Niemals aufgeben
Carmen Renner nickt bejahend. Sie sitzt im Rollstuhl und arbeitet Teilzeit bei VALIDA in St.Gallen. «Ich musste hart kämpfen für diese Beschäftigung». Denn die IV-Sachbearbeiterin hätte sie nicht einmal gefragt, was sie könne und was sie gerne machen wolle. Ein Mensch in ihrer Lage sei auf jener Liste, die nicht für den ersten Arbeitsmarkt in Frage komme. Doch Renner gab nicht auf. «Genau hier liegt der Knackpunkt der Politik: Wir müssen es wollen, dass alle integriert werden im Arbeitsmarkt», sagt David H. Bon, Stadtpräsident von Romanshorn und FDP-Kantonsrat. Ganz im Sinne von: Hilfe zur Selbsthilfe. Aber in der Politik brauche es Durchsetzungsvermögen, man müsse sich immer wieder Gehör verschaffen, so wie es Keel und Renner vorbildlich demonstrieren. Diesen «Trialog» zwischen Politik, Sozialer Arbeit und den Betroffenen führten die Teilnehmenden am Nachmittag fort. Fünf Themen-Lernorte standen zur Auswahl, darunter die vielfach unter Beschuss geratene KESB. Mittlerweile gibt es sogar ein Initiativkomitee, das die KESB abschaffen und zum Laienbehördensystem zurück beordern will. Doch die Podiumsreferenten räumen dieser Initiative keine Chancen ein. «Ich kenne keine Gemeinde, die das will», sagt Dario Sulzer, Wiler Stadtrat und Sozialvorsteher. Und Fredy Morgenthaler, Berater von KESB-Behördenmitgliedern, ergänzt: «Das ist Blödsinn. Die Fälle sind heute weit komplexer und anspruchsvoller, da braucht es den fachmännischen Entscheid.»
Den Sozialarbeitenden und Studierenden brannten ganz andere Fragen auf der Seele und so standen ihnen die Referenten Red und Antwort, warum Abklärungen oft so lange dauern, wie die Entscheide gefällt werden oder wie sich die Soziale Arbeit besser positionieren könne. Und so lautete der abschliessende Appell von FHS-Dozent Dani Fels: «Alle reden vom Gleichen, einfach aus verschiedenen Perspektiven. Deshalb sollten wir uns vermehrt einmischen und unsere Rechte einfordern.»
Die FHS St.Gallen hat die Bodenseetagung in Kooperation mit dem Berufsverband AvenirSocial Sektion Ostschweiz und dem Netzwerk FHS Alumni durchgeführt.
Der Film «Redemer drüber: Sozialhilfebezüger können nicht River-Raften» wurde von «Drehtag» im Rahmen der Bodenseetagung und im Aufttrag der FHS St.Gallen realisiert.
Weitere Informationen auf dem Blog der Bodenseetagung