Von Anja Speyer und Eva Lingg, Mitarbeiterinnen des Instituts für Soziale Arbeit und Räume
Im Modul «Soziale Räume» des Bachelorstudiums Architektur legen wir die Wechselwirkungen zwischen Menschen und der gebauten Umwelt dar. Die Studierenden lernen, wie Architektur und bauliche Massnahmen das soziale Zusammenleben gestalten und beeinflussen. Am 2. Dezember 2020 haben wir mit den Studierenden des 5. Semesters die aktuelle Corona-Krise zum Thema gemacht.
Die Menschheit befindet sich aufgrund der Covid-19-Pandemie weltweit in einer ausserordentlichen Lage, denn diese durchdringt alle Sphären unseres täglichen Lebens, stellt Viele von uns vor immense Herausforderungen und bedroht Existenzen. Forscherinnen und Forscher aus den unterschiedlichsten Disziplinen setzen sich damit auseinander, was für Folgen die Covid-19-Pandemie hervorruft und wie wir mit Pandemieereignissen umgehen und in Zukunft leben müssen.
Die Massnahmen zur Virus-Bekämpfung haben unser Leben fast zur Gänze in das private Umfeld gerückt: Gearbeitet und gelernt wird zu Hause, mit Freundinnen und Freunden trifft man sich online zum Kaffeekranz, Kultur und Kunst verlagern ihre Darbietungen und Exponate in virtuelle Räume und die Kinder werden rund um die Uhr zu Hause betreut. Darüber hinaus erschweren soziale Normen des «physical distancing» den Kontakt zum engeren sozialen Umfeld: Mit dem «Grosi» kann man nur noch durch eine Trennwand aus Plexiglas reden und das Feierabendbier in der Stammbeiz fällt aus. Das Zuhause wird wieder einmal mehr zum Zentrum unseres alltäglichen Lebens und ausgelagerte Funktionen wie Schule, Sport und Arbeit überlagern sich nun mit den üblichen Funktionen des Wohnens. Mit dem Unterschied, dass wir in diesem Fall keine Wahl haben. Ein Zustand, der Stadtbewohnerinnen und -bewohner aufgrund der Dichte herausfordert, und besonders die Lebensqualität von prekären Haushalten in Städten zunehmend verschlechtert. Soziale Ungleichheit wird durch die Pandemie verschärft. Der Ausnahmezustand droht zur neuen Normalität zu werden, eine Entwicklung, die der Soziologe Richard Sennett kritisiert. Um dagegen zu steuern müssen Vielfalt, Unordnung und Veränderungen zu den Grundprinzipien von urbaner Planung werden.
Wir griffen diese Gedanken auf und diskutierten online mit den Architekturstudierenden und dem Gastvortragenden David Calas, Architekt und Mitbegründer des Studio Calas in Wien, wie das Gebaute im Verhältnis zum Gelebten und zur Gesellschaft steht, besonders dann, wenn die erlebte Realität immer komplizierter, chaotischer und lebendiger wird.
Diskussionsgrundlage des Moduls bildete u. a. die Studie «Learning from Quaratine» (2020), die David Calas gemeinsam mit seinem Team publiziert hat und welche im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 in Österreich entstanden ist. Basierend auf der Beobachtung von weltweiten Mediendiskursen über die aktuellen Entwicklungen rund um Corona präsentiert die Studie 40 Thesen, die während des ersten Lockdowns aufgekommen sind und hinsichtlich ihrer Nachwirkungen und Chancen durchleuchtet werden. Die Studienergebnisse finden Sie hier: https://www.studio-calas.net/produkt/learning-from-quarantine/
Im Anschluss an das Gehörte hatten die Studierenden Zeit, auf fotografische Entdeckungsreise in ihrem Wohnumfeld zu gehen: Wo treffen sie auf Corona-Massnahmen oder pandemische Räume? Wer hat diese errichtet und wie funktionieren sie? Welche Materialien werden dafür genutzt?
Am Ende des Tages sichteten wir die Bilder auf denen unterschiedliche Situationen erfasst sind: Provisorische Wegleitsysteme im Einzelhandel, Abstandsreglungen in Kirchen, Zelte als provisorische Umzugsschleusen für das Pflegepersonal vor einem Pflegeheim, Testcenter in Baucontainern vor dem Spital oder der Wohnzimmertisch, der zum Familien-Homeoffice geworden ist.
Die ausgewählten Fotografien bilden die Bandbreite von pandemischen Räumen und Corona-Massnahmen ab, auf die wir tagtäglich bewusst oder unbewusst stossen. Anhand der Bilder entwickelten die Studierenden im Austausch mit uns und David Calas Anknüpfungspunkte zu gesellschaftlich relevanten Themen, wie soziale Isolation, Umgang mit Risikogruppen innerhalb einer Gesellschaft, Solidarität in Nachbarschaften, etc. Neben den immensen Herausforderungen zeigte sich, dass Corona Anreize liefert, Innovationen voranzutreiben und Möglichkeitsräume für unser Zusammenleben und die Strukturierung zu schaffen. Parallel dazu diskutierten wir, welche Rolle Architektinnen und Architekten in der Gestaltung der baulichen Umwelt einnehmen und inwiefern pandemische Ereignisse Lösungsvorschläge von Planenden, besonders im Kontext von urbanen Räumen, fordern. David Calas macht den Studierenden Mut in ihrer späteren Tätigkeit Stellung zu beziehen und als Gestalterinnen und Gestalter Einfluss auf das soziale Miteinander zu nehmen, auch wenn es sich dabei oft um eine Gradwanderung handelt.
Foto: Julian Hautle