Mobilität ist für Heimbewohner*innen ein zentraler Faktor für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in der Gemeinde. Drei Pflegeheime in Appenzell und Gonten betreiben mit Unterstützung des Kantons und einer privaten Stiftung seit Anfang Jahr die Fachstelle Soziale Teilhabe im hohen Alter AI. Ein erstes grosses Projekt der Stelleninhaberin Andrea Herger auf Wunsch der Bewohnenden: ein Bus, der am Mittwochnachmittag die drei Heime und das Dorfzentrum anfährt. TVO und das SRF Regionaljournal berichteten darüber.
Die Fachstelle fördert sowohl Teilhabe als auch Selbstbestimmung. Nicht nur soll sie zusammen mit den Heimen eine erweiterte Auswahl an gemeinsamen Aktivitäten und Veranstaltungen anbieten, sondern auch die Erfüllung individueller Bedürfnisse von Bewohnenden unterstützen. Selbstbestimmung besteht nicht nur darin, unter verschiedenen Angeboten des Heims wählen zu können, sondern selbst mitzubestimmen, welche Alternativen überhaupt zur Auswahl stehen sollen. Durch diese „erweiterte Handlungsfähigkeit“ (Scheu & Autrata, Partizipation und Soziale Arbeit, 2013: 226) werden für die Einzelnen die Möglichkeiten, ihre subjektiven Bedürfnisse und Interessen zu decken, ausgedehnt und damit ihre Lebensqualität gesteigert. Zielvorstellung ist nicht die „Zufriedenheit“ der Bewohnenden, wie sie vielerorts regelmässig erhoben wird. Diese wird auch erreicht, wenn sich die Menschen mit dem Gebotenen arrangieren, unter den gegebenen Möglichkeiten auswählen, was noch am besten ihren Bedürfnissen entspricht. Möglicherweise sehen sie weitere Alternativen gar nicht, oder sie geben sich zufrieden mit dem Vorhandenen. Damit vermeiden sie die Spannung aushalten zu müssen zwischen dem, was ist und dem, was sein könnte, aber erst noch realisiert werden muss.
Bei der Realisierung eigener Interessen und Bedürfnisse ist man immer auch auf andere angewiesen und findet ihre Grenzen dort, wo die Bedürfnisse anderer nicht mit den eigenen übereinstimmen. Führt das Heim flexible Bettzeiten ein, damit Bewohnende auf ihren Wunsch auch am Abend an (externen) Veranstaltungen teilnehmen oder einfach später Schlafengehen können, muss dafür ein Teil des Personals spätere Arbeitszeiten in Kauf nehmen, was auf Kosten der eigenen sozialen Beziehungen gehen kann. Oder andere Bewohnende könnten in ihrer Ruhe gestört werden. Die Möglichkeiten für den Einzelnen sind also auch gesellschaftlich zugestandene Möglichkeiten. Indem man sich damit arrangiert und keine Veränderung anstrebt, schützt man sich vor Auseinandersetzungen mit den Bedürfnissen anderer und vor dem Risiko, sanktioniert zu werden oder seine gesellschaftliche Position (z.B. die Beliebtheit bei anderen) zu verlieren.
Um ihre Ziele der Selbstbestimmung und Teilhabe zu erreichen, nimmt die Fachstelle einerseits subjektive Bedürfnisse und Interessen auf, andererseits fördert sie auch kollektive Veränderungen und die Sensibilisierung für Selbstbestimmung und Teilhabe. Mit dem neuen Busangebot ist ein erster Erfolg gelungen: in Einzelgesprächen äusserten Bewohnende den Wunsch. Mit der gemeinsamen Realisierung steht nun allen Bewohnenden der drei Heime, die das wünschen, ein erweitertes Mobilitätsangebot zur Verfügung. Das erleichtert ihnen Möglichkeiten, die das Dorf bietet, selbständig zu nutzen und Beziehungen ausserhalb des eigenen Heimes zu pflegen.
Das Institut für Soziale Arbeit und Räume begleitet die Pilotphase der Fachstelle mit einer laufenden Evaluation.