Die Mobile Jugendarbeit MOJUGA AG legt in ihrem aktuellen Jahresbericht einen inhaltlichen Schwerpunkt auf «Jugendliche im öffentlichen Raum». Mit Expertenstimmen und Analysen will die Redaktion eruieren, weshalb sich immer weniger Jugendliche im öffentlichen Raum bewegen: Ob diesbezüglich gesellschaftliche Verdrängungsmechanismen im Gange sind, ob die Jugendlichen neue Treffpunkte haben, wie sich das gesellschaftliche Umfeld auf die jugendliche Nutzung des öffentlichen Gemeindegrunds auswirkt oder was zu welchen Konflikten führen kann. Interviewt wurde unter anderen auch Stephan Schlenker von der FHS St.Gallen.
Ist es Ihrer Meinung nach korrekt, dass Jugendliche allgemein den öffentlichen Raum immer mehr meiden?
Stephan Schlenker: Grundsätzlich stellen wir und die Kolleginnen und Kollegen in der Jugendarbeit im Ostschweizer oder Süddeutschen Raum, zu denen wir regelmässig Kontakt haben, dieses Phänomen fest. Sicher scheint, dass Jugendliche heute eine extrem hohe Mobilität besitzen. Sie wechseln schneller und öfter die Aufenthaltsorte in ihrer Freizeit.
Und wo sind sie denn anzutreffen?
Der öffentliche Raum ist nach wie vor ein beliebter Aufenthaltsort, aber wir stellen fest, dass Jugendliche immer mehr auch konsumorientierte Räume bespielen. Das sind beispielsweise Kaufhäuser, die am Abend im Vergleich zu früher sehr lange geöffnet sind. Attraktiv sind diese Orte auch, da sie warm und wettergeschützt sind und weil man partiell konsumieren kann und sich viele Gleichaltrige dort aufhalten – es ist immer was los. Jugendliche halten sich aber grundsätzlich eher kürzer an einem und wechselnd an mehreren Orten auf.
Demzufolge haben die Jugendhäuser als einziger möglicher Aufenthaltsraum für Jugendliche in einem ländlichen Dorf ausgedient?
Nein, Jugendhäuser sind neben Kaufhäusern, dem öffentlichen Raum, dem eigenen Zuhause, jenem von Freunden oder der S-Bahn in die nächste grössere Stadt einfach eine gute und aus meiner Sicht auch beliebte Aufenthaltsmöglichkeit, aber Jugendliche zeigen heute eindeutig ein fluideres Verhalten.
Folglich hat der virtuelle Raum bei den Jugendlichen nicht den öffentlichen Raum ersetzt?
Bei Gruppen von Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen und Lebensbedingungen – oft gekennzeichnet durch Schulabbruch, mangelnder Sprachkompetenz, schlechten Berufschancen und somit Desintegration – kann durchaus eine Form von Flucht in den virtuellen Raum festgestellt werden, zum Beispiel im Rahmen des Spiels «game of warcraft». Die anderen jugendlichen Gruppierungen nutzen den virtuellen Raum als Verbindung und Ergänzung zum realen Leben oder als Zeitvertreib. Man macht über das Smartphone Termine ab, teilt Inhalte mit Anderen, informiert sich.
Verschwimmen auch die klar definierten Jugendgruppen bezüglich Bedürfnissen, Verhalten oder Regeln?
Das ist ein interessanter Punkt, weil es diesbezüglich meines Wissens kaum aktuelle Forschungsergebnisse gibt. Es könnte sein, dass sich Jugendliche heute nicht nur kürzer und an mehr verschiedenen Orten aufhalten, sondern dass sie sich auch in verschiedenen zweck- und raumorientierten Gruppen bewegen, je nach Lust und Laune.
Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, ob Jugendliche heute von der Gesellschaft allgemein nicht stärker aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden als früher.
Tendenziell ja, wobei man sehr genau hinschauen muss, aus welcher Art von öffentlichen Räumen Jugendliche verdrängt werden. Im Raum Konstanz und Kreuzlingen, den ich persönlich sehr gut kenne, werden Jugendliche regelmässig von der touristisch und damit ökonomisch relevanten Seepromenade weggewiesen. Mit der Begründung, dass möglicher Abfall oder Lärm das touristische Geschäft stört. Im Sommer gibt es in Konstanz am See ein Alkoholverbot, man darf keine Musik mehr machen oder hören.
Suchen die Jugendlichen denn in ihrem fluiden, und auch von Verdrängung gekennzeichnetem Verhalten etwas oder sind sie zufrieden damit?
Wohl beides: Viele Jugendliche suchen noch immer selbstbestimmte Räume. Angebote von der
Jugendarbeit wie beispielsweise inhaltlich definierte Betriebsgruppen sind da meiner Meinung nach sehr wertvoll. Hinzu kommt, dass Jugendliche sehr daran interessiert sind, ihre Bedürfnisse über Events zu befriedigen. Die Frage ist heute sehr wichtig: «Wo geht etwas ab?» Und da engagieren sie sich dann auch und sind dann auch zufrieden.
Insofern haben sich die Jugendlichen eigentlich gar nicht so stark verändert?
Nein, sie haben genau dieselben grundsätzlichen Bedürfnisse und Nöte wie vor zehn oder zwanzig Jahren auch. Ihr Verhalten sehe ich eher als Anpassungserscheinung. Was sich stark verändert hat, ist das Drumherum also die Gesellschaft in einer neuen Moderne. So die scheinbar reale Welt im Digitalen, die Mobilitätsentwicklung, die Individualisierung, die Globalisierung und die Pluralisierung der Gesellschaft. Und insbesondere auch der immer früher einsetzende und immer stärker ausgeprägte Druck in Schule, Ausbildung oder Studium erfolgreich zu sein. Jugendliche nehmen die aufgehende Schere zwischen Arm und Reich stark wahr und merken, dass heute scheinbar kurz nach dem Kindergarten oder gar bereits früher die Weichen gestellt werden, ob man ein ganzes Leben lang zu den Gewinnern oder Verlierern gehört.
Text und Bild: aus dem Jahresbericht 2016 der MOJUGA
Stephan Schlenker, Jahrgang 1966, Erziehungswissenschafter. Er ist im Vorstand der Internationalen Gesellschaft für Mobile Jugendarbeit. Er lehrt und forscht im Fachbereich Soziale Arbeit mit den Schwerpunkten Kinder und Jugendliche an der Fachhochschule St. Gallen