An der Euregio-Ringtagung haben 150 Studierende aus verschiedenen Ländern der Bodenseeregion über soziale Gerechtigkeit diskutiert. Die Soziale Arbeit hat laut ihrem internationalen Leitbild den Auftrag, diese Gerechtigkeit zu fördern – ein Anspruch, der die Soziale Arbeit im Alltag vor Herausforderungen stellt.
Die Euregio-Ringtagung hat eine lange Tradition. 1985 trafen sich erstmals Dozentinnen und Dozenten der Fachrichtung Soziale Arbeit der Fachhochschulen Vorarlberg, Ravensburg-Weingarten und St.Gallen. Ihr Ziel war es, sich über die Landesgrenzen hinweg auszutauschen und zu vernetzen. Mittlerweile ist die Euregio-Ringtagung fester Teil des Semesterprogramms der Studierenden der Sozialen Arbeit. «Es ist unglaublich, dass solch ein Netzwerk eine derart lange Zeit Bestand haben kann», begrüsste Barbara Fontanellaz, Leiterin Fachbereich Soziale Arbeit an der FHS St.Gallen, die Teilnehmenden.
150 Studierende hatten sich für die Euregio-Ringtagung am 14. Mai 2019 in der FHS St. Gallen angemeldet. Während eines Tages tauschten sie sich intensiv über das Thema «Soziale Gerechtigkeit und Soziale Arbeit – (un)mögliche Veränderungsperspektiven?!» aus. «Dieses hochaktuelle Thema dreht sich um die Frage, wie heute neue Ungerechtigkeiten geschaffen werden», sagte Barbara Fontanellaz. Seit geraumer Zeit würden die Unterschiede in Einkommen, Vermögen und Verwirklichungschancen auch in der Bodenseeregion zunehmen. Gleichzeitig würden die staatlichen Ausgaben für soziale Leistungen und Dienste gekürzt. Bei der Euregio-Ringtagung sollte es daher um eine Verständigung über die grundlegende Bedeutung des Begriffs «Soziale Gerechtigkeit» für die Soziale Arbeit gehen. Im Mittelpunkt des Austausches standen die Fragen, wie die Soziale Arbeit mit diesen Herausforderungen umgeht und welche Chancen sich für die Soziale Arbeit ergeben.
Für eine wirksame und gleichberechtigte Teilhabe
In ihrem dialogisch angelegten Vortrag «Teilhabe an Gesellschaft aus unterdrückungskritischer Perspektive» gingen Maren Schreier, Dozentin Fachbereich Soziale Arbeit der FHS St. Gallen, und Meryem Oezdirek, wissenschaftliche Assistentin Fachbereich Soziale Arbeit der FHS St.Gallen und Masterstudentin Soziale Arbeit, zunächst auf die «Global Definition of the Social Work Profession» ein. Die Internationale Föderation der Sozialarbeiter (IFSW) hat diese Definition 2014 verabschiedet. Sie findet sich unter www.ifsw.org/global-definition-of-social-work. Maren Schreier und Meryem Oezdirek hoben in der Definition vor allem auf die Begriffe «social change and development», «empowerment and liberation of people» und «social justice» hervor. «Diese Definition hat uns zum Nachdenken gebracht», sagt Meryem Oezdirek. Sie stellen fest: «Der Social-Justice-Ansatz nimmt nicht einfach die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse hin, sondern diese werden problematisiert. Und zwar deshalb, weil die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse auf eine Weise betrachtet werden, dass sichtbar wird: Sie bringen systemisch Ungerechtigkeit, Unterdrückung hervor.(…) Der Social-Justice-Ansatz spricht sich für die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an der Totalität von Gesellschaft aus – einer Teilhabe ohne Ausschliessung, ohne Besonderung, ohne, dass Menschen mit «wohlmeinender» Intention von den vermeintlich «Normale(re)n» separiert werden. In Bezug auf die globale Definition zeigen sich hierbei Widersprüche in der Praxis der Soziale Arbeit.»
Ausgehend vom Konzept «Social Justice» der amerikanischen Menschenrechtsaktivistin und Politikwissenschafterin Iris Marion Young gingen die beiden Referentinnen der Frage nach, wie in einer Gesellschaft unterdrückende Verhältnisse reproduziert werden. «Vielen Personen ist nicht bewusst, dass sie in die Unterdrückung und deren Reproduktion verstrickt sind», sagte Maren Schreier. «Das gilt auch für unsere drei Bodenseeländer. Kategorisierung, Marginalisierung und Diskriminierung sind Alltag. Gewalt gegenüber bestimmten Gruppen wird toleriert. Solidarität wird erschwert und manchmal auch attackiert.» All dies dränge nach Handlungsalternativen. «Was also können wir tun, um die herrschenden Verhältnisse gemäss der Globalen Definition von Sozialer Arbeit zu durchbrechen?», fragte sie die Studierenden. In Gruppen diskutierten diese anschliessend über Lösungsansätze wie Weiterbildungen für Führungskräfte, flache Hierarchien sowie die Vernetzung und Kollektivierung von Sozialarbeitenden, um dadurch mehr Einfluss nehmen zu können.
Arm, benachteiligt und isoliert?
Am Nachmittag belegten die Studierenden einen von acht Workshops, um sich vertieft mit einer aktuellen Thematik auseinanderzusetzen. Die Workshops trugen die Übertitel «Diskriminierungserfahrungen und Diskriminierungsverbot», «Reproduktion sozialer Ungleichheit mittels Emotionen», «Doing intersectionality», «Sozialhilfe und Capabilities – welche Wirkungen hat aktivierende Sozialpolitik?», «Die Geschichte der Sozialen Gerechtigkeit in den westlichen Demokratien mit Blick in die Gegenwart», «Kritische Analyse der Perspektiven auf Asylsuchende in Medien und Asylbescheiden», «Arm, benachteiligt und isoliert – befähigende Bildungs- und Sozialpolitik als Ausweg?» sowie «Medien und soziale Ungleichheit».
Im Workshop «Arm, benachteiligt und isoliert – befähigende Bildungs- und Sozialpolitik als Ausweg?» ging Marlene Haupt, Professorin an der Hochschule Ravensburg-Weingarten, zunächst auf die Entwicklung des fürsorgenden Wohlfahrtsstaates hin zum aktivierenden und befähigenden Wohlfahrtsstaat ein. «Die Befähigung wird heute als ein Weg der Armutsbekämpfung angesehen», sagte Marlene Haupt. «Doch wie funktioniert das in der Praxis? Und vor allem, funktioniert das im Sinne der sozialen Gerechtigkeit für alle Personen gleich gut?», fragte sie die Studierenden. Diese sammelten zunächst Ursachen für Armut wie Migration, Krankheit, Working Poor und Wirtschaftskrisen. Danach legten sie die Hauptrisikogruppen für Armut fest. Dazu gehören unter anderem Arbeitslose, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Frauen, Seniorinnen und Senioren, Kinder und Obdachlose. «Wenn man nur die Einkommen berücksichtigt, dann gilt in Deutschland, Österreich und der Schweiz rund 25 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet», sagte Marlene Haupt. «Nach den Sozialtransfers wie Kinder- oder Elterngeld sind es noch zwischen 14 und 16 Prozent.» Die Folgen von Armut seien für die Betroffenen verheerend: Sie sind von vielen Lebensbereichen wie Bildung, Kultur und Sport ausgeschlossen. «Ausserdem macht Armut krank. Die Lebenserwartung nimmt bei von Armut betroffenen Frauen im Schnitt um 8,4 Jahre bei Männern um 10,8 Jahre ab», sagte sie. «Armut wird auch oft vererbt und über die Generationen weitergegeben. Kinder aus armen Familien haben kaum Aufstiegschancen. Was kann die Soziale Arbeit also tun?» Die Studierenden diskutierten verschiedene Lösungsansätze des aktivierenden Wohlfahrtsstaates. «Ich frage mich, ob 1-Euro-Jobs der richtige Weg sind. Wieso kann man diese Personen nicht fair bezahlen?» sagte eine Studentin. Ein Student sagte, dass die Sozialpolitik stärker bei den Schulen und Tagesbetreuungen ansetzen müsste, um die Chancengleichheit der Kinder zu garantieren. Eine weitere Studentin sagte: «Ich denke, das Problem der befähigenden Sozialen Arbeit ist, dass sie nicht bei allen Personen ankommt. Sie nimmt nicht die Perspektive der Betroffenen ein. Was soll sie beispielsweise tun, wenn es sich ein Betroffener einfach nicht vorstellen kann, acht Stunden pro Tag in einer Lagerhalle mit schlechter Luft zu arbeiten, und sich weigert? Soll man ihn zwingen oder gibt es alternative Ansätze?»
Den Abschluss der Tagung bildete ein Impro-Theater der Konstanzer Gruppe ComedyCation. Die Schauspieler hatten zuvor in den verschiedenen Workshops vorbeigeschaut. Aus den Diskussionen der Studierenden hatten sie verschiedene Sätze herausgegriffen und zum Abschluss der Tagung so ein improvisiertes Stück über die Euregio-Ringtagung 2019 auf die Beine gestellt.
Text: Nina Rudnicki
Fotos: Lea Müller