In den letzten Jahrzehnten ist die Anzahl an Gremien in der Raumentwicklung rasant angestiegen. Abgesehen von den vielerorts bereits etablierten Gestaltungsbeiräten oder Stadtbildkommissionen sind vielfach auch neue Gremien entstanden, die inter- oder transdisziplinär arbeiten bzw. zusammengesetzt sind. Das IFSAR Institut für Soziale Arbeit und Räume der OST – Ostschweizer Fachhochschule hat in Zusammenarbeit mit dem Institut für Architektur und Raumentwicklung der Universität Liechtenstein solche Gremien in Deutschland, Österreich und der Schweiz untersucht. Ziel des Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Raumentwicklung 4.0“ war, herauszuarbeiten, was zu einer gelingenden Gremienarbeit beitragen kann.
Warum braucht es solche Gremien? Bei der Planung und Umsetzung neuer Gebäude, Siedlungen und Quartiere sind – insbesondere im Zuge der geforderten Verdichtung nach innen – immer komplexere Entscheidungen zu treffen. Die Komplexität wird unter anderem dadurch erhöht, dass immer mehr im Bestand gebaut wird, Boden immer wertvoller wird, die Eigentümerstrukturen vielschichtiger werden und dadurch auch immer mehr Akteurinnen und Akteure eingebunden werden müssen. Wir haben es also mit hochkomplexen Problemstellungen bzw. Aushandlungsprozessen zu tun, so Jan Silberberger, einer der Experten der Begleitgruppe des Projekts. Und ab einer gewissen Tragweite, so Silberberger weiter, treffen in der Raumentwicklung unweigerlich ökonomische Verwertungslogiken auf ökologische Zielsetzungen, gesellschaftliche und individuelle Vorstellungen von Zusammenleben und Lebensqualität auf politische Regulation sowie bestehende Siedlungsgefüge und (Verkehrs-)Infrastrukturen auf Möglichkeitsräume. Inter- oder transdisziplinäre Gremien können damit in erster Linie als Instrumente gesehen werden, die den Austausch und die Kollaboration zwischen allen Akteurinnen und Akteuren, die in Planungsprozesse involviert sind, verbessern – oder vielleicht erst möglich machen. Zudem können – so Silberberger – Gremien zur Nachvollziehbarkeit von Planungsprozessen in der Bevölkerung beitragen, bspw. indem Sie Prozesse verständlich – d.h. ohne Fachjargon – kommunizieren und thematisieren. Gremien leisten ausserdem einen wichtigen Beitrag zu gelingenden Planungsprozessen, indem sie mögliche Interessenskonflikte frühzeitig erkennen und die Gemeinden aus ihrer unabhängigen Position heraus unterstützen können, so Anne Brandl (Leiterin Stadtentwicklung Chur), eine weitere Expertin, die uns im Projekt begleitet hat. Gremien können auch eine qualifizierende Funktion einnehmen, indem sie Lösungen für die Gestaltung von Prozessen aufzeigen, weitere Fachleute vorschlagen oder bisher vernachlässigte Aspekte in Planungsprozesse einbringen. Alois Humer, ein weiterer Experte im Projekt meint, dass im besten Fall solche inter- oder transdisziplinäre Gremien zu mehr Transparenz, Partizipation, Meinungsaustausch und Abwägung und somit zu gesellschaftlicher Legitimation von Raumplanungsentscheidungen beitragen.
Gleichermassen deutet das Projekt darauf hin, dass es zahlreiche Vorbehalte gegenüber solchen Gremien gibt. Beispielweise besteht insbesondere bei Gremien mit empfehlendem Charakter oft die Befürchtung, dass durch Gremien Planungsvorhaben komplizierter werden und sich diese in die Länge ziehen. Oder es bestehen Vorbehalte, sie können anderen Gremien (wie etwa Jurys bei Wettbewerben oder Planungsausschüssen in den Gemeinden und Städten) widersprechen/in Konkurrenz dazu stehen, weshalb sie teilweise bei anderen involvierten Akteurinnen und Akteuren auf Widerstand stossen. Gremien selbst berichten von der Befürchtung, dass ihre Empfehlungen teilweise nicht „gehört“ werden und in der Schublade landen. Und es stellen sich auch viele Fragen hinsichtlich der passenden Zusammensetzung (Multidisziplinarität, Alter, Gender, Diversity, Erfahrungshintergründe etc.), der Arbeitsweise, den Einsatzbereichen und Einsatzzeitpunkten solcher Gremien – noch ein Grund, warum Vorbehalte gegenüber solchen Gremien bestehen.
Vor dem Hintergrund der Diskrepanz zwischen steigender Bedeutung einerseits und zahlreichen Vorbehalten gegenüber Gremien in der Raumentwicklung andererseits, wurden im Projekt Raumentwicklung 4.0 über 50 Gremien gesammelt und grob analysiert. Davon wurden in weitere Folge vier Gremien ausgewählt, die sich v. a. durch ihre inter- und transdisziplinäre sowie innovative Arbeitsweise auszeichnen, in vertieften Case-Studies untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass sowohl bei der Gründung und Institutionalisierung von Gremien als auch bei ihrer tagtäglichen Arbeit an vielen Stellschrauben gedreht werden kann. Diese beziehen sich sowohl auf ‚harte‘ als auch auf ‚weiche‘ Faktoren. Wie ist das Gremium an andere Verwaltungsstellen und Gremien gekoppelt? Mit welchen Ressourcen ist es ausgestattet? Wie lange dauern die Gremienmitgliedschaften? Diese Fragen adressieren ‚harte Faktoren‘; mit den für das jeweilige Gremium passenden Antworten kann schon viel zum Gelingen der Gremienarbeit beigetragen werden. Daneben gibt es aber auch eine grosse Palette an ‚weichen‘ Faktoren, die nicht von langer Hand geplant werden können. Wer redet aus welcher Rolle mit welcher Erfahrung mit? Wer kennt wen und ist auf wen wie gut zu sprechen? Wer hat Einfühlungsvermögen und Führungsqualitäten?
Die umfangreiche Recherche von Gremien im deutschsprachigen Raum hat deutlich gemacht, dass Gremien nicht mehr ‚nur‘ rein politisch oder ‚nur‘ aus einer Fachdisziplin herausgebildet werden. Vielmehr wird den zunehmend komplexer werdenden Fragestellungen auch mit einer zunehmenden Vielperspektivität begegnet. In zeitgemässen Gremien sind unterschiedliche Fachdisziplinen von der Architektur, der Stadt-, Raum- und Verkehrsplanung über die Ökonomie und Rechtswissenschaften bis hin zu Sozialwissenschaften eingebunden. Interdisziplinarität – so die Expertinnen und Experten der Begleitgruppe heisst nicht «nur sich problembezogen auszutauschen und jeder gibt seine Expertise ab, sondern es bedeutet Routinen zu verlassen und ergebnisoffener mit einem Problem umzugehen», wobei «Interdisziplinarität selbstverständlich nicht nur Landschaftsarchitektur, Raumplanung und Architektur meint». Dadurch wächst der Wissenspool über die zu bearbeitenden Aufgaben, es kann leichter mit den vielfältigen Partnerinnen und Partnern kommuniziert werden, und Entscheidungen von Gremien erhalten so eine höhere Bedeutung bzw. ihre Empfehlungen für politisch Entscheidungstragende sind auf eine breitere Basis gestellt.
Im Projekt legten wir zudem einen Schwerpunkt auf die Frage ‘des Sozialen‘ in der Gremienarbeit. Wir haben uns damit beschäftigt, was im konkreten Fall ‘soziale Aspekte‘ sind und wie eine sozialräumliche Perspektive in der Gremienarbeit verankert werden kann. Dabei hat sich gezeigt, dass ‘das Soziale‘ in jedem Gremium neu verhandelt werden muss; es ist ein vielfältiger und wandelbarer Begriff, der in den Gremien unterschiedlich interpretiert und gehandhabt wird, aber in allen Gremien eine grosse Rolle spielt. Fragen der Beteiligung von Neuzugezogenen in einem Quartier sind dabei ebenso wichtig wie die Situierung und Gestaltung von Gemeinschaftsräumen bis hin zu den Betriebs- und Wohnkosten bzw. zum Thema der Leistbarkeit.
Die Ergebnisse werden im Herbst 2022 in der Schriftenreihe «Materialien» der Abteilung Raumplanung und Baurecht des Landes Vorarlberg veröffentlicht. Als nächster Schritt startet ein Pilotprojekt mit der Regionalplanungsgemeinschaft (Regio) Vorderland-Feldkirch in Vorarlberg, in welchem die Erkenntnisse unseres Projekts auf konkrete räumliche Herausforderungen übersetzt und die Forschungsergebnisse mit Erfahrungen aus der Praxis „geprüft“ und angereichert werden.
Foto: wohnfonds_wien
Jurysitzung Bauträgerwettbewerb 7. Apollogasse
2. Stufe im April 2020