5. SGG-Tagung «Informelle Freiwilligenarbeit und soziale Zugehörigkeit»: An der Tagung vom 13. Juni 2019 in St.Gallen stellten Prof. Doris Rosenkranz von der TU Nürnberg und Dr. Sibylle Studer von Interface Politikstudien neue Forschungsergebnisse vor. Neu oder überraschend war nicht alles. So zum Beispiel, dass die Bereitschaft, Hilfe zu leisten grösser ist als die Akzeptanz von Hilfe. Gerade deshalb ist informelle Hilfe nicht selbstverständlich und kann nicht erzwungen werden. Die Erwartung, dass sie beispielsweise in der Bewältigung der demographischen Herausforderungen eine zentrale Rolle spielen wird, stösst deshalb an Grenzen. So wird bei den Erhebungen von Doris Rosenkranz deutlich, dass primär minimal invasive Hilfen akzeptiert werden, für welche die gebende Person nicht in die Privatsphäre (sprich Wohnung) eindringen muss und für die nehmende Person eine minimale Verpflichtung zur Gegenleistung entsteht.
Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte Sozialer Arbeit braucht dies nicht zu überraschen. Eine Errungenschaft professioneller Sozialer Arbeit, die aus der Wohltätigkeit freiwilliger Helferinnen hevorgegangen ist, besteht ja gerade in der Ablösung dieser personenbezogenen Verpflichtung und Abhängigkeit durch gesicherte Ansprüche gegenüber öffentlich finanzierten oder mindestens subventionierten Organisationen. Wird mehr Freiwilligenarbeit gefordert (und gefördert), weil angeblich professionelle Arbeit nicht (mehr) bezahlbar sein soll oder ihr zumindest wegen Mittelknappheit und Zwang zu direkt wirkungsbezogenen Leistungsnachweisen die Zeit fehlt, um sich auf die Person der Hilfesuchenden wirklich einzulassen, droht also ein Rückschritt. Wie Sibylle Studer am Beispiel des Asylbereichs aufzeigte, bestehen zentrale Aufgaben von Freiwilligen letztlich darin, Versagen gesellschaftlicher Funktionssysteme zu kompensieren: Weil der Wohnungs- und der Arbeitsmarkt für Flüchtlinge aus eigener Kraft nur schwer bis gar nicht zugänglich sind, müssen Freiwillige bei der Suche unterstützen. Weil das Bildungssystem insbesondere erwachsenen Flüchtlingen ohne Kenntnisse der schweizerischen Landessprachen verschlossen bleibt und selbst die Angebote, um diese Sprachen zu erlernen, nicht ausreichend finanziert werden, springen Freiwillige als SprachlehrerInnen ein. Natürlich besteht auch die Funktion der Sozialen Arbeit in solch kompensatorischer Arbeit: Wo also, und warum eigentlich genau dort, ist die Grenze zwischen freiwillig und bezahlt zu ziehen? Um die Antwort auf diese Frage wird immer wieder gerungen. Sie ist allerdings kaum zu lösen, indem – wie es bei Doris Rosenkranz anzuklingen schien – fast jegliche ausserfamiliäre Interaktion, wie das sprichwörtliche Ei-Ausleihen an die Nachbarin, zur informellen Freiwilligenarbeit erklärt wird. Warum sollte denn eigentlich diese Form von Nachbarschaftshilfe (wenn möglich noch professionell!) gefördert werden, wenn man sich das Ei heutzutage fast überall auch im nächsten Bahnhofs- oder Tankstellenshop kaufen kann – bei einer dafür bezahlten Verkäuferin, der man dadurch nicht persönlich etwas schuldig bleibt?
Die Soziale Arbeit sollte sich nicht nur auf die Förderung von Freiwilligenarbeit in der Eins-zu-eins-Beziehung konzentrieren, sondern sich auch auf andere Kapitel ihrer Geschichte besinnen, nämlich auf Gemeinwesenarbeit, Empowerment und ähnliche Ansätze. Hier entspringt die gegenseitige Unterstützung nicht der Teilung in Hilfsbedürftige und Hilfegebende, sondern der Suche nach gemeinsamen Interessen und dem Willen, die Verhältnisse gemeinsam zu ändern. Diese Sicht verändert die Arbeit von Nachbarschaftsförderung und Quartierbüros und wie sie sonst heissen, entscheidend. Vielleicht gab der mächtige Frauenstreik am der SGG-Tagung folgenden 14. Juni entsprechende Impulse.
Text: Martin Müller