Immer mehr Baugenossenschaften stellen Siedlungsassistenzen, Alltagscoaches oder Partizipationsverantwortliche an. Diese sollen das Zusammenleben gestalten helfen und – vor allem älteren Menschen – Unterstützung bieten. Ein Projekt der FHS St.Gallen will herausfinden, was solche gemeinschaftsorientierten Stellen leisten und wie sie erfolgreich eingeführt werden können.
Die Zeitschrift WOHNEN hat mit Christian Reutlinger ein Interview geführt. Wir danken für die Möglichkeit zur Zweitveröffentlichung auf unserem Blog.
Wohnen: Sie beschäftigen sich als Experte schon lange mit der Entwicklung von Siedlungsräumen und der Gestaltung von Nachbarschaften. Was sind die wichtigsten Trends der letzten Jahre?
Christian Reutlinger: Grosse Themen sind das Zusammenleben und wie es gelingt, Gemeinschaft herzustellen. Gesellschaftlich beschäftigt das, weil immer mehr Menschen auf immer engerem Raum leben. In welchen Formen erträgt man Nähe, wie mündet diese nicht in Aggressionen oder Ausgrenzung? Für die Einzelnen geht es eher um die zunehmende Individualisierung und ihre Folgen; oft kennt man den Menschen, der neben einem lebt, nicht, weil man ihn nie trifft und er anders eingebunden ist als man selbst. Die Anonymisierung erzeugt Sehnsucht nach Zugehörigkeit, man möchte wieder einen Überblick haben, Ordnung, Nähe, Beziehungen. Allerdings muss man aufpassen, dass man das nicht romantisiert.
In welcher Hinsicht?
In vielen Köpfen geistern Vorstellungen vom «idealen Dorf» herum, man möchte das Dorf in die Stadt bringen. Dabei blendet man aus, dass frühere Dorfgefüge mit ihrer starken sozialen Verzahnung ganz anders funktionierten als urbane Orte. Die soziale Kontrolle war enorm, für den Einzelnen konnte es extrem schwierig sein. Ich denke etwa an Frauen. Bestimmte ausgegrenzte Gruppen hatten keine Chance. Solches vergisst man allzu leicht. In diesem Spannungsfeld sehe ich die aktuelle Debatte.
Bei Baugenossenschaften jedenfalls erlebt Gemeinschaftlichkeit ein Revival. Vielerorts werden Fachleute in Funktionen rund um Soziales und Partizipation eingestellt, die Nachbarschaften fördern und Menschen im Alltag unterstützen sollen. Die Rolle solcher Community-Arbeitenden untersuchen Sie nun in einem Projekt an der FHS St.Gallen. Worum geht es?
Wir wissen nicht wirklich, weshalb gerade jetzt so viele Genossenschaften auf «professionalisierte Gemeinschaftsstifter» zurückgreifen. Und wie Auftrag, Rollen und Arbeitskontext bei den verschiedenen Fachleuten, die irgendwo zwischen Gemeinwesenarbeit und Altersbetreuung angesiedelt sind, jeweils aussehen. Dem möchten wir nachgehen und feststellen, wo es Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede gibt. Damit man weiss, was es braucht, damit solche Stellen erfolgreich funktionieren. Dies alles vor dem Hintergrund der Entwicklungen, die Genossenschaften in den letzten Jahrzehnten durchlaufen haben.
Was sprechen Sie an?
In der Gründerphase war der Gemeinschaftsgedanke entscheidend. Hinter Genossenschaften standen oft Leute mit ähnlicher Herkunft, ähnlichen Berufen, Interessen und Zielen. Das erleichterte Gemeinsinn und schuf Identität. Heute aber gibt es viel Heterogenität, Menschen mit unterschiedlichsten Lebensentwürfen. Da fragt man sich, was die Genossenschaft ausmacht, welche Gemeinschaft man überhaupt möchte und wie man die Mitglieder dazu bringt, daran teilzuhaben. Anschauen möchten wir dabei auch, inwiefern sich die heutige von früheren Phasen unterscheidet, in denen gemeinschaftsorientierte Wohnformen schon einmal in waren, etwa die 70er-Jahre oder die Zeit um 1900. In Nordamerika wurde vor rund hundert Jahren intensiv diskutiert, wie man Nachbarschaften in Grossstädten, die durch den Zuzug vieler Migranten fast unregierbar geworden waren, gestalten konnte. Man merkte, dass man Einheiten schaffen und Soziales wieder herstellen muss. Etwas Ähnliches findet derzeit im deutschsprachigen Raum statt.
Wie läuft Ihr Projekt ab?
Es ist partizipativ und ergebnisoffen angelegt. Das heisst, wir entwickeln mit den Teilnehmenden gemeinsam den Projektablauf. Ziel ist, dass alle gegenseitig voneinander lernen und die Erkenntnisse für die Praxis nutzbar sind. In einer ersten Phase gehen wir zusammen mit den Fachleuten auf eine Art Entdeckungsreise und schauen fünf Projekte genauer an. Dabei besuchen sich die Beteiligten gegenseitig und nehmen vor Ort verschiedene Perspektiven ein, zum Beispiel die der Bewohnenden oder der Verwaltung. Die Beobachtungen möchten wir gemeinsam reflektieren und konkrete Handlungsempfehlungen daraus ableiten. In einer zweiten Phase beziehen wir auch die Perspektive der Institutionen und die strukturellen Bedingungen, in denen die Fachleute arbeiten, mit ein. Schliesslich werden wir gemeinsam geeignete Vernetzungsformate entwickeln. Je nachdem, was die Community-Arbeitenden brauchen, kann man an bestehende Netzwerke andocken oder etwas Neues entwickeln.
Sie haben im Herbst den ersten Workshop durchgeführt. Was hat sich dort gezeigt?
Es war eine gute gemeinsame Energie spürbar. Die Community-Arbeitenden sind sehr daran interessiert, zu verstehen und voneinander zu lernen. Inhaltlich ging es darum, zu klären, wo die Teilnehmenden jeweils stehen und wie wir vorgehen. Auf der persönlichen Ebene haben alle eine Frage für sich formuliert, an der sie im Verlauf des Projekts arbeiten möchten. Gezeigt hat sich bis jetzt, dass alle äusserst ausgelastet sind und ihre Aufgaben komplex und vielfältig sind. Und dass die Erwartungen an sie oft diffus sind. Sie müssen sich den Sinn ihrer Arbeit selber geben. Deshalb ist das Bedürfnis, sich zu vernetzen, gross. Das wurde insbesondere bei den Fachleuten grosser Genossenschaften deutlich, die ihre komplexen Organisationen als herausfordernd empfinden und sich mit vielfältigsten Ansprüchen von Bewohnenden konfrontiert sehen. Wir nehmen ihr Bedürfnis nach Austausch im Projekt auf und werden ein eigenes Angebot für sie entwickeln.
Unsere Gesellschaft wird immer älter. Das ist auch in Ihrem Projekt ein Thema. Was bedeutet es für die Fachleute?
Wir betrachten bewusst die ganze Breite von Funktionen von traditioneller Soziokultur bis zu Altersbetreuung mit gemeinschaftsfördernder Ausrichtung. Die Herausforderung wird sein, wie man die bislang völlig unterschiedlichen Berufsbilder und Logiken verschränken kann. Nehmen Sie die klassische Altersbetreuung: Da gerät man sehr schnell in die Privatsphäre der Bewohnenden, wenn es darum geht, wie sie ihr Leben meistern können und auch Pflegethemen angesprochen sind. Ärzte und Gesundheitspersonal, Familienmitglieder und vielleicht noch enge Freunde lässt man da zu. Ob dies auch für Personen aus dem «Sozialbereich» gilt, ist hingegen fraglich. Die eigene Türschwelle ist tabu; man weiss aus der Sozialarbeit, wie heikel es wird, wenn es um Hausbesuche geht. Es stellen sich aber noch ganz andere Herausforderungen.
Welche?
Gemeinhin geht man davon aus, dass viele ältere Leute einsam sind und man sie daher aus ihren Wohnungen «herausholen» sollte. Da fragt sich aber, was sie dann machen möchten, ob überhaupt homogene Gruppen mit gemeinsamen Interessen bestehen, ob man sie auch mit anderen Altersgruppen mischen kann usw. Und man muss sich auch immer vergegenwärtigen, mit wem man es eigentlich zu tun hat. Jede Generation hat eigene Modelle von Familie, Privatheit, Gemeinschaft. Die Nachkriegsgeneration etwa ist geprägt von einer erwerbsbiografischen Normalität und einer klaren Geschlechtertrennung. Allmählich kommen nun aber die 68er ins AHV-Alter. Da gibt es neue Lebensentwürfe, Menschen mit Kommunenerfahrung, aber auch ausgeprägten Individualismus. Ist es wirklich angezeigt, dass Leute, die ein ganzes Leben lang für sich allein funktionierten, Formen von Gemeinschaft lernen müssen, wenn sie älter oder schwächer werden?
Es geht also nicht immer unbedingt darum, mehr Gemeinschaftlichkeit zu schaffen?
Genau. Man muss, unabhängig vom Alter, jeweils klären, von welcher Gemeinschaft man spricht. Was, wenn die Leute gar nicht zusammenkommen wollen, oder wenn es ganz unterschiedliche Vorstellungen über Gemeinschaft gibt? Und Konflikte? Bremst man diese aus, damit der Rest funktioniert? Oder gibt es eine Konfliktkultur? Wird es in der Genossenschaft akzeptiert, dass es Gruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen gibt, die nicht alle Teil «einer» Gemeinschaft sind? Dann können zum Beispiel Jugendliche Eigenes umsetzen. Pflegt man hingegen das Klischee vom Zusammenleben, an dem alle teilnehmen, vom «guten Dorf», kann man auf das, was nicht hineinpasst, eigentlich nur mit Ausgrenzung reagieren. Genossenschaften sollten sich Rechenschaft darüber ablegen, wo sie da wirklich stehen. Community-Arbeitende können dazu beitragen.
Was können Genossenschaften tun, damit solche Stellen funktionieren?
Dies soll zusammen mit den Projektpartnern und -partnerinnen herausgefunden werden. Andere Projekte zeigten, dass es absolut zentral ist, dass die Beteiligten klar definieren, was deren Aufgabe und Verantwortlichkeiten sind und was man erreichen möchte. Schwierig wird es dann, wenn die Genossenschaft unklare Vorstellungen und Erwartungen an Stelleninhaber hat oder wenn diese nicht explizit formuliert werden. Das kann Missverständnisse und Frust erzeugen. Braucht man Fachleute, die dafür sorgen, dass gemeinschaftliche Orte für die verschiedenen Ansprüche zugänglich bleiben? Oder geht es darum, Soziales wiederherzustellen – etwas zu «reparieren», das nicht mehr so ist, wie es sein soll? Möchte man gemeinsam ein bestimmtes Ziel erreichen und braucht jemanden, der das unterstützen kann? Muss man erst noch gemeinsam feststellen, wo man hinmöchte? Oder erachtet man, zum Beispiel in stark durchmischten Siedlungen, bestimmte Mitglieder als nicht gemeinschaftsfähig und möchte sie dafür fit machen? Je nach Vorstellungen resultieren ganz unterschiedliche Aufgaben der Community-Arbeitenden.
Und dann gibt es ja noch die Ansprüche der Bewohner und Bewohnerinnen.
Ja, ihre Erwartungen sind möglicherweise nochmals ganz andere als diejenigen der Genossenschaftsführung. Dem muss man ebenfalls Rechnung tragen. Wobei auch zu definieren ist, wer sich Klarheit über die verschiedenen Vorstellungen zu verschaffen hat – liegt das ebenfalls in der Verantwortung der Fachleute, oder hat man das vorgängig bereits eruiert?
Das Projekt läuft noch zwei Jahre. Was sind die nächsten Schritte?
Im Januar starteten die gegenseitigen Besuche unter den Projektteilnehmenden. Diese erfolgen im definierten Kreis. Danach möchten wir die gewonnenen Erkenntnisse mit weiteren Partnern möglichst breit teilen und diskutieren. In welcher Form das erfolgt, ist noch offen. Je nach Resonanz in der Branche werden wir einen breiten Austausch und Vernetzung ermöglichen. Wir sind bereit, das Projekt dann für weitere Interessierte zu öffnen. Diese können sich gerne bei uns melden.
«Berufsfeld Community – ein neues Berufsfeld in einer älter werdenden Gesellschaft» ist ein Projekt der Fachhochschule St. Gallen IFSA-FHS unter Leitung von Christian Reutlinger.
Entstanden ist es vor dem Hintergrund, dass bei Baugenossenschaften und Institutionen immer mehr Stellen für Professionelle aus den Bereichen Soziokultur und Partizipation geschaffen werden. Im Forschungsprojekt wird untersucht, wie deren Arbeitskontext aussieht,
und es soll geklärt werden, was es für die erfolgreiche Einführung solcher Stellen braucht. Zudem sollen über die Projektlaufzeit hinaus Vernetzungsstrukturen etabliert werden.
Das Projekt läuft seit Januar 2017 und noch bis Ende 2019. Unterstützt wird es von der Age-Stiftung, beteiligt sind Fachleute der Baugenossenschaften ABZ, Freiblick, gaiwo, Gesewo, mehr als wohnen, Glattal, BEP und Littau sowie von Gemeinden und Institutionen.
Christian Reutlinger (46), Prof. Dr., leitet seit 2008 das Kompetenzzentrum für Soziale Räume der Fachhochschule St.Gallen. Davor forschte und lehrte er an verschiedenen
europäischen Hochschulen in den Bereichen Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Sozialraumforschung. Zu seinen Schwerpunktthemen gehören Jugendliche und Nachbarschaften.
Text: Liza Papazoglou, Zeitschrift WOHNEN
Bild: FHS St.Gallen, Debora Giammusso