Der Glöckner von Rorschach

 

Kommenden Dienstag geht eine „Legislaturperiode“ der poetischen Art zu Ende: Die Reihe „Stadt als Bühne“ der FHS St.Gallen (2005-2009) mündet ins neunte und letzte Kapitel „Stadt der Sinne“. Dabei treten die wichtigsten Stadtfiguren der Reihe „Stadt als Bühne“ nochmals auf. Auf einer Art Laufsteg mitten durch die Ankerstrasse präsentieren sich um 14 Uhr Butler, Stadtflaneur und Herold, um 14 Uhr 30 gibt der Glöckner beim Jakobsbrunnen Einblick ins Glockenhaus, bevor um 15 Uhr ein Expertenrat im Kulturlokal Mariaberg Stellung zur Fantasie einer „Stadt der Sinne“ bezieht.

Kreuzlingen nennt sich selbstbewusst „die erste Stadt der Schweiz“, Arbon seit neustem „Stadt der weiten Horizonte“. Und Rorschach? Ginge es nach Mark Riklin und Selina Ingold, den Initianten der Reihe „Stadt als Bühne“, würde Rorschach demnächst als „Stadt der Sinne“ ausgerufen.

Haus-Durchstich

54 Studierende des Fachbereichs Soziale Arbeit haben sich vor zehn Tagen auf den Weg gemacht, ihren Studienort einmal anders wahrzunehmen: langsam unterwegs zu sein, auf ungewohnten Wegen, aus wechselnden Perspektiven. Auf einem Stadtspaziergang erproben sie als direkten Übergang von der Rosen- zur Löwenstrasse einen Haus-Durchstich, erspähen durch Schaufenster-Auslagen den Friseursalon Peppino und die Weinhandlung Enoteca, und durchstreifen die Herbstkollektion eines Warenladens, um direkt vor dem Jakobsbrunnen ausgespuckt zu werden: einem ersten Element einer zukünftigen „Stadt der Sinne“.

Ave-Maria-Läuten

1834 sei der historische Jakobsbrunnen anstelle der Jakobskapelle aus dem 9. Jahrhundert erstellt worden, schreibt der Rorschacher Bote am 17. Oktober 1895. Immer wieder einmal drohte das Ave-Maria-Läuten dem Weltgeist zum Opfer zu fallen, wurde aber bis in die heutige Zeit gerettet. „Marroni-Meier“, wie der langjährige Marroni-Verkäufer Otto Meier (86) im Volksmund heisst, erinnert sich an einen Pensionären namens Spirig, wohnhaft gewesen an der Hauptstrasse 83, der zweimal täglich an der Glocke gezogen habe. „Das Läuten des Elfi-Glöckchens gehörte in meiner Kindheit zur akustischen Umwelt Rorschachs“, sagt Ortshistoriker Louis Specker. Das Erklingen der Ave-Glocke sei ein wichtiger Orientierungspunkt im Tagesablauf gewesen, habe Struktur, Rhythmus und Geborgenheit gegeben.

Sehnsucht nach Sinnlichkeit
Nach dem Tode Spirigs wurde die Glocke elektrifiziert. Alt Eichmeister Karl Keller versah das Glockenwerk 1975 mit einem Linearmotor, den er sich durch seinen Bruder in Amerika hatte beschaffen lassen. Seither läutet die Glocke wieder. Nur leider wird sie nicht mehr von Hand betrieben. Was Mark Riklin bereits vor zwei Jahren dazu veranlasste, öffentlich die Idee zu propagieren, das Glockenwerk zu de-automatisieren und wieder einen Glöckner einzusetzen, wie in früheren Zeiten. Mit zunehmender Technisierung und Digitalisierung der Gesellschaft sei viel Sinnlichkeit verloren gegangen und deshalb eine wachsende Sehnsucht nach Fantastischem und Sinnlichem auszumachen.

Klopfzeichen
„Kannst du mir verraten, wer den Schlüssel zum Jakobsbrunnen verwaltet?“, heisst es deshalb seit über einem Jahr an der Stelle 59 der „Fragen an eine Stadt“. Und tatsächlich, es gibt ihn, einen zuständigen Hüter des kostbaren Schatzes auf dem Kronenplatz. Auf ein Klopfzeichen hin öffnet sich das schmied-eiserne Tor zum Glockenhaus und ein Mann in schwarzem Umwurf und Schlabber-Hut erscheint: Alois Ambauen (60), der den Jakobsbrunnen seit dem 1. Januar 1994 im Nebenamt wartet und verwaltet. Mindestens alle drei Monate kontrolliert der Projektleiter der Technischen Betriebe der Stadt Rorschach den amerikanischen Linearmotor, der das Ave-Glöckchen auch heute noch täglich um Punkt 11 und 18 Uhr während zweier Minuten erklingen lässt.

Lob der Feinheit
Der Glöckner von Rorschach als Teil einer „Stadt der Sinne“? Ein ehrenvolles Amt für einen Pensionären, sinnhafte Tagesstruktur inklusive? Die Studierenden ziehen weiter, Hofweg und Schmusegässli entlang, am Schilte Sechsi und der letzten Schmiede vorbei, hinauf zur Kirchstrasse 27, wo der Verein K27 mit Kleinkunst-Anlässen das Lob der Kleinheit und Feinheit pflegt. Auf der Dachterrasse blicken sie hinaus über die Dächer einer „Stadt der Sinne“, in der Stadtfiguren ein Schmunzeln entlocken.

Bildlegende: Der Glöckner von Rorschach als Teil einer „Stadt der Sinne“? Alois Ambauen belebt einen alten Rorschacher Brauch (Bild: Nader Nobakhti-Afshar)

Text: Mark Riklin

Box 2: Sinnlicher Raum
„Die Stadt ist nicht allein visueller Raum, sondern gleichzeitig auch Hörraum, Geruchsraum, Tastraum, kinästhetischer Raum, also Bewegungsraum für das Spiel, den Tanz, den Schritt, den Sprung, erlebbar mit Muskeln, Knochen und Haut, erlebbar für den ganzen Menschen. Sie ist sinnlicher Raum.“
Aus: Hans Boesch: Die sinnliche Stadt, Essays zur modernen Urbanistik.