Neuveröffentlichung: Perspektive Wohnungsverlust

Leerkündigungen sind ein Phänomen, das in den vergangenen Jahren vermehrt in Schweizer Städten und Regionen mit angespannten Wohnungsmärkten und im Rahmen der zunehmenden baulichen Verdichtung zu beobachten ist. Menschen wird dort im Zuge von Bauvorhaben, wie dem Abriss oder der Totalsanierung einer ganzen Siedlung, gekündigt und verlieren damit ihre Mietwohnungen. Leerkündigungen folgen aus der Perspektive von Eigentümerinnen und Eigentümer einer strategisch nachvollziehbaren Logik. Bislang kaum in den Blick geraten sind die daraus resultierenden sozialen Folgen für die betroffenen Bewohnerinnen und Bewohner. Besonders vulnerable Gruppen, wie ältere Mieterinnen und Mieter, Erwerbslose, Geringverdienerinnen und Geringverdiener, Alleinerziehende und Familien werden durch solche Prozesse in der Regel belastet und müssen mit diesen umgehen.

Die Frage danach, wie Menschen mit dem (bevorstehenden) Wohnungsverlust im Zuge baulicher Aufwertung durch Totalsanierungen und Verdichtungen umgehen, stand im Mittelpunkt des vom Schweizer Nationalfonds geförderten Forschungsprojektes ‘Entmietet’ und verdrängt werden – eine qualitative Studie zum Umgang mit Wohnungskündigungen im Zuge baulicher Aufwertungen und Verdichtungen (Akronym: WOHNSOG) (2017-2020). Über die am IFSAR Institut für Soziale Arbeit und Räume an der OST – Ostschweizer Fachhochschule durchgeführte Studie haben wir bereits im März 2021 in dem Beitrag Bedrohtes Wohnen in der Schweiz – die Sicht der Betroffenen auf dem IFSAR-Blog berichtet.

Im Rahmen der WOHNSOG-Untersuchung haben wir (d.h. ein interdisziplinäres Forscherinnen- und Forscher-Team) in zwei innerstädtischen Siedlungen und einer Siedlung in der Agglomeration während oder kurz nach dem Sanierungsprozess zwanzig qualitative Interviews mit vom (bevorstehenden) Wohnungsverlust betroffenen Mieterinnen und Mietern geführt. Die Ergebnisse dieser Studie werden von Miriam Meuth und Christian Reutlinger im Laufe des Jahres als umfangreiches Buch mit dem Titel ‹Entmietet› und verdrängt werden – Perspektiven betroffener Mieter*innen auf ihre Wohnungskündigung im Kontext baulicher Aufwertung und Verdichtung und ihr Umgang damit im transcript Verlag publiziert. Für die betroffenen Menschen haben Leerkündigungen teilweise dramatische und unmittelbare Auswirkungen und führen zu Verdrängungsprozessen. Doch resultiert daraus – so zeigen die Befunde des Projekts WOHNSOG weiter – eine verstärkte Zuspitzung gesellschaftlicher Disparitäten auf dem Wohnungsmarkt. Damit ist das Projekt selbst in einem wohnpolitischen Spannungsfeld situiert: Zum einen ist das Streben nach baulicher und sozialer Verdichtung mit dem Ziel des haushälterischen Umgangs mit Grund und Boden zu begrüssen; zum anderen ist kritisch zu sehen, wenn das Credo der Verdichtung Aufwertungsprozessen Vorschub leistet, die massive negative Auswirkungen für die Mieterinnen und Mieter haben.

Bereits erschienen ist die Publikation Perspektive Wohnungsverlust (2022), für die wir zum Ende der Laufzeit des Projekts WOHNSOG sechs Expertinnen und Experten aus den wohnbezogenen Praxisfeldern im Bereich Verwaltung, Verbandswesen, Privatwirtschaft und angewandter Forschung zu einzelnen Interviews eingeladen hatten: Doris Sfar (ehemalige Leiterin des Bundesamtes für Wohnungswesen BWO), Franz Horváth (Leiter des Bereichs Weiterbildung von Wohnbaugenossenschaften Schweiz), Lukas Beck (Leiter Geschäftsbereich Raum- und Standortentwicklung der EBP Schweiz AG), Natalie Imboden (Generalsekretärin des Mieterinnen- und Mieterverbandes Schweiz), Franziska Stocker (Mitarbeiterin im Generalsekretariat des Mieterinnen- und Mieterverbandes Schweiz) und Raimund Kemper (Raumplaner und Dozent am IFSAR Institut für Soziale Arbeit und Räume der OST – Ostschweizer Fachhochschule).

«Ein sensiblerer beziehungsweise ‹besserer› Umgang von Liegenschaftsverwaltungen mit den von Wohnungsverlust betroffenen Mietenden ist ein Tropfen auf den heissen Stein. Denn ein ‹guter› Umgang ändert nichts an der Tatsache, dass Mieter*innen gehen müssen. […]» Auszug aus dem Interview mit Doris Sfar

Im Rahmen dieser Gespräche holten wir ihre Sichtweise auf die Ergebnisse unserer Studie ein. Wie kann man den beschriebenen Entwicklungen in baulich-strategischen Aufwertungsprozessen begegnen? Wie gelingt es negative soziale Auswirkungen von Ersatzneubauten sowie Totalsanierungen abzumildern respektiv zu verhindern? Wie können bauliche Aufwertungen ohne Leerkündigungen vollzogen werden?

«[…] ich denke, man könnte in solchen Prozessen der Sanierung und Erneuerung entsprechende Infrastrukturen schaffen und Schlüsselpersonen wie Sozialarbeitende oder Quartierarbeitende einsetzen beziehungsweise ihnen die Koordination und Umsetzung von Unterstützungsangeboten übertragen.» Auszug aus dem Interview mit Franz Horváth

Die Inhalte dieser Gespräche haben wir für die Publikation Perspektive Wohnungsverlust aufgearbeitet und mit weiterführenden Informationen angereichert. Interessierte können sich gerne ein Exemplar für 10 CHF (inkl. Porto Schweiz) unter der folgenden Mail-Adresse ifsar@ost.ch bestellen. Weitere Informationen zu dem abgeschlossenen Projekt finden Sie hier.

«Mit meinem Hintergrund in der Raumplanung sehe ich verschiedene Möglichkeiten, die Probleme anzugehen. Dazu gehört für die Akteur*innen der Stadtplanung die Sensibilisierung von Eigentümerschaften zu Sanierungseffekten und zu möglichen Handlungsansätzen wie eine etappierte Sanierung. […]» Auszug aus dem Interview mit Raimund Kemper