Wie können vulnerable Personen, welche psychosozialen Risiken in der Arbeitswelt ausgesetzt sind und unter stressbedingten Erkrankungen leiden, dazu ermutigt werden im Nachsorgeprozess bei sich selbst Gefährdungskonstellationen zu erkennen und diesen aktiv entgegenzuwirken?
Dieser Frage geht das von Innosuisse geförderte zweijährige Forschungsprojekt des interdisziplinären Teams der OST – Ostschweizer Fachhochschule (Institut für Modellbildung und Simulation IMS und IFSAR) in Zusammenarbeit mit den Umsetzungspartnern Opinion Games GmbH und der Klinik Gais AG als Anwendungspartner nach.
Das Projekt stützt sich auf die Erkenntnisse des Innosuisse-Vorprojekts «Selbstmonitoring von Patienten mit Depressionen und anderen arbeitsbezogenen Stressfolgeerkrankungen» und einem SNF Grundlagenforschungsprojekt ab, welches sich ebenfalls mit psychosozialen Risiken in der Arbeitswelt auseinandersetzte und auch in der Kooperation mit der OST und der Klinik Gais erarbeitet wurde.
Projektziel
Im Zentrum des Projekts steht die Entwicklung der SELBA-Webapplikation. Diese soll Menschen unterstützen, die sich aufgrund einer arbeitsbezogenen Stresserkrankung in der Klinik Gais befinden, ihre Arbeitsbelastungen individuell zu erforschen und zu monitoren.
Dadurch sollen Gefährdungskonstellationen sichtbar gemacht werden, welche auf Erkenntnissen der subjektwissenschaftlichen Arbeitsforschung und systemdynamischen Modellen basieren. Durch personalisier- und gestaltbare Inhalte soll die intrinsische Motivation gefördert werden, so dass sich Patient*innen regelmässig selbst monitoren und sich aktiv mit persönlichen Frühwarnzeichen, Stressoren, Bedeutungen, funktionalen und dysfunktionalen Bewältigungsstrategien, individuellen Ressourcen sowie Ziele und Aktivitäten auseinandersetzen. Dies mit dem Ziel, dass sich das persönliche Wohlbefinden der Patient*innen steigert und einer Wiedererkrankung entgegengewirkt oder bestenfalls vermieden werden kann.
Die SELBA-Webapplikation soll dabei in einem Blended Therapy-Kontext eine Ergänzung zur Face-to-Face-Therapie darstellen. Der Innovationsgehalt der SELBA-Webapplikation zeichnet sich dadurch aus, dass die Benutzung auf eine längerfristige Adhärenz abzielt, welche sich nach der Behandlung weiterzieht. Dadurch kann die spezifische Lebenslage über einen längeren Zeitraum beobachtet werden.
Grundlage
Die Anforderungen an die Sorge- und Erwerbsarbeit sowie die damit verbundenen subjektiven Stressempfindungen nehmen in der Schweiz stetig zu. Dies hat unter anderem auch arbeitsbezogene Stresserkrankungen zur Folge, welche sich nicht nur negativ auf persönliche Lebensbereiche auswirken, sondern auch wirtschaftliche Mehrkosten mit sich bringen. Zudem steigt das Risiko einer Wiedererkrankung erheblich, da nach einem stationären Klinikaufenthalt, die Patientinnen und Patienten wieder in ihren Alltag zurückkehren und sich wieder erhöhten Sorge- und Erwerbsarbeitsbedingungen ausgesetzt sehen. Die mangelnde oder unzureichende psychotherapeutische Nachsorge von Patientinnen und Patienten verstärkt diesen Effekt zusätzlich. Deshalb soll die SELBA-Webapplikation dazu beitragen, Gefährdungszeichen und Konstellationen führzeitig zu erkennen und aufzuzeigen, um Patientinnen und Patienten zu befähigen, ihre Ressourcen zu aktivieren oder sich die entsprechende Hilfe zu holen. Dies soll in der SELBA-Webapplikation unter anderem durch Pushnachrichten an die Patientinnen und Patienten oder die telefonische Kontaktaufnahme durch die Klinik Gais gewährleistet werden. Der Softwareprototyp der SELBA-Webapplikation wird in diesem Projekt als Medizinalprodukt ohne Zertifizierung für den internen Gebrauch der Klinik Gais genutzt.
Aktuell
Die Entwicklung der SELBA-Webapplikation erfolgt in verschiedenen Entwicklungsphasen. Die Softwaremodulinhalte werden anschliessend von den Userinnen und User bewertet und von der OST evaluiert. Dadurch lassen sich sowohl die Inhalte als auch das Design stetig weiterentwickeln und anpassen. Bereits durchgeführte PRE-Tests von einzelnen Softwaremodulen mit Patientinnen und Patienten und Therapeutinnen und Therapeuten der Klinik Gais bestätigten, dass sich durch personalisierbare Elemente die Lebenssituationen und lebenslagenspezifische Stressoren abbilden lassen. Die Auswertung der erhobenen Daten weist zudem darauf hin, dass die Akzeptanz gegenüber dem entwickelten Produkt sowohl bei Patientinnen und Patienten als auch bei Therapeutinnen und Therapeuten hoch ist, wenn sich die Inhalte in die Therapie integrieren lassen und diese ergänzen.
Auf Grundlage dieser ausgewerteten Daten von Patientinnen und Patienten und Therapeutinnen und Therapeuten konnten die Inhalte und das Design für die nachfolgende Testphase entsprechend weiterentwickelt werden. Aktuell befindet sich das Projekt in einer weiteren Testphase mit einem noch nicht ausgereiften webbasierten Prototypen, welcher in der Klinik Gais mit stationären und ambulanten Patientinnen und Patienten getestet wird. Die im Prototyp verwendeten Softwaremodule werden über einen Zeitraum von einem Monat hinweg getestet und anschliessend mittels Fragebogen und semistrukturierter leitfadengestützter Interviews mit Therapeutinnen und Therapeuten und Patientinnen und Patienten evaluiert. Unter die Evaluationskriterien fallen der Bedienkomfort, die subjektive Nutzeneinschätzung, die Ästhetik, die Niederschwelligkeit und die Adhärenz.
Fazit
Die SELBA-Webapplikation bietet die Möglichkeit, dass sich Patientinnen und Patienten als aktiv Forschende ihrer eigenen Lebenslage erfahren und sich Therapieinhalte auch zwischen Therapiesitzungen vergegenwärtigen. Um dies optimal zu gewährleisten, braucht es noch weitere Daten und Rückmeldungen aus der aktuellen Testphase.
Ausblick
Die Nutzung der SELBA-Webapplikation beschränkt sich in diesem Projekt auf die Patentinnen und Patienten der Klinik Gais, welche bereits eine arbeitsbezogene Stresserkrankung hatten. Es wurden jedoch bereits weitere Use Cases mit Therapeutinnen und Therapeuten und Umsetzungspartnern besprochen. So könnte möglicherweise in einem Folgeprojekt eine Erweiterung der Anwendung im betrieblichen Gesundheitsmanagement angestrebt werden. Denn das Selbstmonitoring und die aktive Auseinandersetzung mit der individuellen Lebenssituation würde sich auch als Präventionsinstrument eignen, um psychosoziale Risiken in der Erwerbs- und Sorgearbeit frühzeitig zu erfassen.
Team: Alexander Scheidegger (IMS), Michael Schmid (IMS), Vanessa Toscan (IMS), Jasmin Rabensteiner (IMS), Stefan Paulus (IFSAR), Marisa Arn (IFSAR), Benjamin Lemcke (OpinionGames), Sebastian Imbach (OpinionGames), Thomas Egger (Klinik Gais AG)
Kontakt: Stefan Paulus