Schule und Schulsozialarbeit im Kontext von sozialräumlichen Debatten

Retraite vom 3. September 2008
Organisation IFSA – Soziale Räume
Christian Reutlinger und Annegret Wigger

Die interne Retraite befasste sich mit dem Verhältnis zwischen Schule und Stadtteil, aber auch – durch den Fokus auf Schulsozialarbeit – mit der Rolle von Sozialer Arbeit in und mit dem System Schule.

Dieses Verhältnis zwischen Schule und Stadtteil wird in den aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen aus verschiedenen Blickwinkeln wie beispielsweise der Schulentwicklung, der Stadtentwicklung oder aus gewissen Feldern der Sozialen Arbeit fokussiert.

Zitate:

Schule als Abbild des Quartiers:
„Alle Defizite und Probleme der sozialen Strukturen dieses Stadtteils spiegeln sich im Kindergarten und in der Schule wider.“
Rainer Gerhard: Gemeinschaftsgrundschule Roncallistrasse – Stadtteilkonferenz: Ein Stadtteil hilft seinen Kindern: In: Rene Bendit u.a. (Hrsg.): Kinder- und Jugendkriminalität. Opladen 2000 S. 277

Der Bildungsraum als Spiegel des sozialen Miteinanders im städtischen Quartier:
„An der Gestaltung der lokalen Schullandschaft lässt sich erkennen, welche Vorstellungen zum sozialen Miteinander im gemeinsam bewohnten Stadttraum entwickelt, wie diese in der Ausgestaltung der Schulen umgesetzt werden und welche Probleme sich dabei zeigen.“
Joachim Schroeder: Schulentwicklung und die Grammatik des Zusammenlebens: Das Beispiel Hamburg-Wilhelmsburg, In: Wolf-Dietrich Bukow/Erol Yildiz (Hrsg.): Der Umgang mit der Stadtgesellschaft Opladen 2002 S. 113

Der Stadtteil als Klammer der Schule und Jugendarbeit:
„Der Stadtteil/der Sozialraum ist sowohl für Schule als auch Jugendarbeit die wesentliche Klammer, aber in der Regel verfügen die Jugendarbeiter/innen eher als die Lehrer/innen über detaillierte Einblicke in die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen“.
Ulrich Deinet: Kooperation von Jugendarbeit und Schule. In: Handbuch der offenen Kinder- und Jugendarbeit Wiesbaden 2005 S. 579

Programm der Retraite:

10.00 Begrüssung
10.15 – 12.00 Schule und Quartier – Einblicke in laufende Forschungsprojekte des IFSA:

Prof. Dr. Peter Rahn: Schule in Bezug auf das Quartier
Dipl. Soz. Caroline Fritsche: Schule und Steuerung (Sozialraumorientierung)
Prof. Dr. Annegret Wigger: Schule aus Sicht „schwieriger“ SchülerInnen

12.00 – 13.30 Mittagspause
13.30 – 15.00 Referate:

Die Rolle/der Stellenwert von Schule aus Sicht der Debatte um Sozialraumorientierung
Prof. Dr. Wolfgang Hinte, Uni Essen-Duisburg

Schule als Bestandteil lokaler Bildungslandschaften
Prof. Dr. Wolfgang Mack, PH Ludwigsburg/Reutlingen

15.00 – 15.30 Pause
15.30 – 17.00 Schlussdiskussion

Audiodateien:

Annegret Wigger: Schule aus der Sicht schwieriger SchülerInnen:

[audio:https://www.ifsa.ch/audio/Annegret Wigger_Schule aus Sicht -schwieriger- SchuelerInnen.mp3]

Caroline Fritsche: Schule und Steuerung:

[audio:https://www.ifsa.ch/audio/Caroline Fritsche_Schule und Steuerung.mp3]

Peter Rahn: Schule in Bezug auf das Quartier:

[audio:https://www.ifsa.ch/audio/Peter Rahn_Schule in Bezug auf das Quartier.mp3]

Wolfgang Mack: Schule als Bestandteil lokaler Bildungslandschaften:

[audio:https://www.ifsa.ch/audio/Wolfgang Mack_Schule als Bestandteil lokaler Bildungslandsch.mp3]

Wolfgang Hinte: Die Rolle/der Stellenwert von Schule aus Sicht der Debatte um Sozialraumorientierung:

[audio:https://www.ifsa.ch/audio/Wolfgang Hinte_Die Rolle von Schule aus Sicht der Debatte um.mp3]

Schlussdiskussion:

[audio:https://www.ifsa.ch/audio/Schlussdiskussion.mp3]

Überblick über die Diskussion
Prof. Dr. Christian Reutlinger, IFSA

Ein Strang der Schul- und Bildungsdebatte geht beispielsweise davon aus, dass Schule in der bisher bekannten Form aufgrund aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen, wie bspw. veränderte Bedingungen des Aufwachsens, die damit zusammenhängenden wachsenden Schulschwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen bzw. die drohenden sozialen Desintegrationsprozesse ihrer Integrationsfunktion (siehe Fend 1981; 2006) nicht mehr automatisch nachkommen kann. Empirische Studien zeigen, dass das regionale Umfeld, insbesondere der Stadtteil, in dem Schule lokalisiert ist, „und die institutionellen Bezüge der Schule zum Stadtteil“ eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der jeweiligen Schule spielen (Mack/Raab/Rademacker 2003, S. 51), wie bspw. die Kollegen vom Deutschen Jugendinstitut in ihrer Studie „Schule, Stadtteil, Lebenswelt“ verdeutlicht haben. Wolfgang Mack, einer der Mitverfasser dieser Studie, wird heute Nachmittag sicherlich auf diese Erkenntnis zurückkommen.
Vor diesem Hintergrund muss sich die Institution Schule öffnen, die verschiedenen Bildungsorte und Lernwelten von Kindern und Jugendlichen zur Kenntnis nehmen, diese miteinander verknüpfen, bzw. die unterschiedlichen Welten des Lebens und Lernens miteinander verzahnen. Neue Formen der Kooperation sollen mit dem Ziel des „Aufbaus einer kommunalen Bildungslandschaft als Infrastruktur für Kinder und Jugendliche, die getragen wird von Leistungen und Einrichtungen der Schule“ sozialräumlich mit anderen Institutionen im Stadtteil ausgestaltet und in kommunaler Verantwortung organisiert werden (BMFSFJ 2005, S. 42). Auch auf die Idee der Bildungslandschaften wird Wolfgang Mack heute in seinem Referat genauer eingehen.

Mit dieser Öffnung tangiert die Bildungsdiskussion Felder der Sozialen Arbeit wie beispielsweise der offenen Kinder- und Jugendarbeit oder Schulsozialarbeit. In diesen scheint im gesamten deutschsprachigen Diskurs parallel zur Tendenz der Öffnung von Schule ein Wandel in den Handlungskonzeptionen von einer eher klientenzentrierten hin zu einer raumorientierten Arbeit mit der Schule und ihrem Umfeld stattgefunden zu haben (Drilling 2004; Deinet 2005). „Schulsozialarbeit ist oft für die jeweilige Schule so etwas wie ein Scharnier zu den Institutionen im Stadtteil und denen der sozialen Arbeit“ (Deinet 2006, S. 44). Damit werden aus diesen Bereichen der Sozialen Arbeit Forderungen nach stärkerer Kooperation von Schule und Stadtteil lauter (Projektgruppe Schulsozialarbeit 1986; Richter 1998; Deinet 2001). Die Kooperationsbeziehung der Institutionen „Schule“ und „Jugendhilfe“ im Stadtteil steht jedoch gleichzeitig unter dem Vorzeichen der Konkurrenz. So droht sich beispielsweise Kinder- und Jugendarbeit im Rahmen der Diskussion um „Ganztagsbildung“ vollständig in der Schule aufzulösen.

Stadtentwicklungsdebatte

Während Schule in der Stadtentwicklungsdiskussion lange Zeit keine Rolle gespielt hat und parallel zur Schulentwicklungsdiskussion ablief, wird heute darauf vertraut, dass die Schule weit reichende Integrationsaufgaben im Stadtteil erfüllen kann.
In der programmatischen stadtpolitischen Diskussion, wie beispielsweise im Bund-Länder-Programm „Sozialen Stadt“, wird den Schulen denn auch eine entscheidende Rolle im Rahmen von Quartiersentwicklungsprozessen zugeschrieben: Schulen werden als Schlüsselinstitutionen im gebietsbezogenen institutionellen Kooperationsgefüge gesehen und mit Programmen der sozialen Stadtentwicklung gilt es die Schulen einzubinden und zum Quartier hin zu öffnen. Schulen sind nach den Vorstellungen des Programms „Potenzial für interkulturellen Austausch, für Begegnung, soziales und kulturelles ‚Lernen’ der Kinder und ihrer Eltern, für Integration“ (Beer/Musch 2002, S. 71). Sie gelten als „Institutionen, mit denen eine soziale Isolierung von Kindern und Jugendlichen in eher demotivierenden Armutsmilieus durchbrochen werden kann“ (Meyer/Schuleri-Hartje 2005, S. 6).
Schule wird als integrierende Instanz in Gebieten gesehen, die „gegenüber der Gesamtstadt überdurchschnittliche Problemdichte“ aufweisen (Becker 2003, S. 72). Dazu muss sie sich jedoch zum Stadtteil hin öffnen und mit anderen Einrichtungen (wie bspw. aus der Kinder- und Jugendhilfe) zusammenarbeiten. Mit der Forderung zur Öffnung, dem Vernetzungsanspruch und dem Gebietsbezug trifft sich die stadtsoziologische Diskussion in vielen Punkten mit der aufgezeigten bildungspolitischen Debatte.

Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit

Und schließlich lassen sich in den letzten 15 Jahren in den verschiedenen deutschsprachigen sozialpädagogischen und sozialpolitischen Feldern Diskurse zum Raum nachzeichnen („geographische Wende in der Sozialen Arbeit und Sozialpolitik“ vgl. Reutlinger 2006) – Diese Räumliche Wende wurde von Wolfgang Hinte, welcher heute Nachmittag zu uns spricht, als Paradigmenwechsel „vom Fall zum Feld“ beschrieben. Damit geht die Tendenz weg von einer einzelnen Institution und den darin stattfindenden Prozessen, hin zum unmittelbaren Umfeld, zur vernetzten Kooperation, zum Stadtteilbezug und weg von der Klientensicht bzw. hin zu seiner Lebenswelt.
Pointiert könnte man sagen, dass Gegenwärtig der „Raum“ in Zusammenhang mit der vielfach hergeleiteten Krise des Sozialstaates und den gesellschaftlichen Umbrüchen zur neuen Rahmung der sozialpädagogischen und sozialpolitischen Diskurse wird.
Der Frage, welche Rolle Schule in der räumlichen Ausrichtung Sozialer Arbeit spielen kann, wird Herr Hinte heute Nachmittag genauer nachgehen.

Mit diesem kurzen Überblick habe ich einen Rahmen für das Thema der heutigen Retraite abgesteckt.

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Schule und Schulsozialarbeit im Kontext von sozialräumlichen Debatten – Zitate und Überblick über die Diskussion
Prof. Dr. Christian Reutlinger, IFSA